Mittwoch, 19. Juni 2013

TAG VIERUNDZWANZIG: Von Russel's Cairn nach Kirk Yetholm (ca. 14 Meilen)

Ich habe es geschafft. Ich sitze in einem kleinen, merkwürdig ausgestatteten Aufenthaltsraum der Naturfreunde-Jugendherberge in dem winzigen Ort Kirk Yetholm und habe den Pennine Way abgeschlossen. Und ich bin sehr zufrieden! Laut einem Zertifikat, das ich im Pub neben einem Ale — das gratis war — und Fish and Chips und Eiscreme — die ich bezahlt habe— bekommen habe, liegen nun 268 Meilen hinter mir. Das sind, sowohl, wenn ich umrechne, als auch, wenn ich meinen Wanderführer konsultiere, ziemlich genau 429 Kilometer.
Ich habe hier in diesem merkwürdigen Raum mit schottenrockgemustertem Teppich und an eine Arztpraxis erinnernden Kunstlederstühlen in einer Ecke hinter einem der besagten Stühle ein großes, sehr schweres Buch entdeckt. Es ist bestimmt so groß wie die weiche Sitzfläche einer dieser Stühle und halb so dick wie eine richtig dicke Kirchenbibel. Darauf steht, in goldenen Lettern auf dunkelgrünem Grund:
"The Pennine Way". Es ist ein alter Atlas und enthält einundvierzig große, zerknitterte, sorgfältig mit Folie eingepackte Karten, die — bis auf einige etwas absurde nicht wirklich dazugehörende Karten — die den Wegverlauf dieses ältesten Fernwanderwegs Großbritanniens darstellen. Als ich so dasaß und die weiten Seiten umschlug und dafür fast meine gesamte Armspanne beanspruchen musste, merkte ich, dass manche Ortsnamen mit gar nichts mehr sagen; ich mich nicht einmal mehr erinnern kann, diese Gemeinden passiert zu haben. An den Namen Hawes erinnere ich mich zum Beispiel noch. Aber wie der Ort war, ob und wo ich dort übernachtet und vielleicht sogar dort eingekauft habe, entzieht sich meiner Erinnerung. Ich kann allerdings sagen, wenn ich auf die Karte Blicke, dass ich dort, vielleicht zwei Meilen südlich der Stadt, beim Dodd Fell, lange saß und überlegt habe, ob ich noch weitergehen soll. Ich weiß, wie die Landschaft aussah, wie ich die Berge im Tal mit den winzigen, ganz komisch und anders proportionierten grünen Fleckchen auf der Karte abzugleichen versuchte, ih erinnere mich an die Vorfreude auf die Mittagspause und die Pause selbst — sogar daran, was ich gegessen habe: einen 'Flapjack' mit Blaubeeren. War sehr lecker. Und dann noch einen zweiten, den aber nur zur Hälfte. Denn er war ja eigentlich für den nächsten Tag.
Ich kann mich auch noch erinnern, wie ich am Abend zuvor im Pub war, wie ich eine SMS von der Telefonzelle verschickt habe und überlegt habe, ob ich am nächsten Tag wild campen oder bis Hawes gehen will. Hawes fände ich von der dann zurückgelegten Strecke zufriedenstellender, wildcampen hätte mir in allen anderen Belangen mehr zugesagt.
Aber wie Hawes war? Keine Ahnung.

Interessant ist auf jeden Fall, dass ich mit bestimmten Punkten, die mit zu treffenden Entscheidungen viel zu tun hatten, auch viel verbinde. Je öfter ich irgendwo auf die Karte gesehen habe, desto besser weiß ich jetzt noch, wie es dort aussah und wie ich mich fühlte.
Gleichzeitig fällt aber auch der Prozess des Aussortierens, den das Gehirn die ganze Zeit durchführt, sehr stark auf. Viele Ortsnamen sagen mir überhaupt nichts, denn ich wusste ja eh, dass der weg mich in einen Ort führen würde. Dafür lassen mich bestimmte Linien, die Weiden abgrenzende Mauern darstellen, an die Frage, wo an dieser Mauer ih mein Zelt aufbauen sollte, denken.
In einer Woche werden wieder viele Bilder, Informationen und Erinnerungen verschwunden oder zusammengefasst sein — und das ist vielleicht auch gut so. Denn es kommt ja immer mehr dazu.

Denn: Morgen fahre ich kurz nach Jedburgh, hole etwas in Post Office ab und versuche dann, auf dem kürzesten Weg nach Glasgow und dorthin, wo der West Highland Way beginnt, zu kommen. Ich habe noch keinen konkreten Plan, kein Zugticket. Nur eine erste Entscheidung: ich nehme den Bus um 9:20 nach Kelso, das ist eine etwas größere Stadt hier in der Nähe und ein Knotenpunkt für bestimmt zwei oder sogar die unglaubliche Zahl von drei Buslinien. Eine von diesen versuche ich dann zu erwischen, um nach Jedburgh zu kommen.
Das wird bestimmt ein spannender Tag, an dem nichts so läuft, wie ich jetzt und kurz vorher denke. Ich bin schon sehr gespannt, von wo ich Euch morgen schreiben werde. Das ungewisse daran ist sehr verlockend; und mit meinem Schlafsack kann ich ja auch auf irgendeinem kleinen Bahnhof schlafen. Vielleicht kann ich ja auch am Ende des Gleises mein kleines, feines, grünes Zelt aufschlagen und die Spannleinen mit Steinen aus dem Gleisbett befestigen.
Mal sehen!
Was so kommt. :)
Aber ein Tag voller Reise, Fahren und Warten ist mir nach den drei Wochen Wanderung sehr willkommen.

Um noch einmal auf die Zahlen zurückzukommen:
Meine Wanderzeit beträgt eigentlich nur 21 Tage, denn zwei habe ich in Bellingham krank verbracht und der erst war der Tag meiner Ankunft, an dem ich zwar auch ein Stück zum Hostel laufen musste, aber nicht auf dem Pennine Way.
Die Strecke von 429 Kilometern ist wahrscheinlich zu kurz, schon allein wegen der vielen Kühe, die ich weitläufig umrundet habe. Aber mit ihr als Grundlage kommt man auf rund 20,4 Kilometer pro Tag. Das ist jetzt nicht der Hammer, aber ich bin sehr zufrieden damit. Wäre es mehr, hätte ich weniger Spaß gehabt.

Also, satt und zufrieden werde ich jetzt gleich ins Bett in dem großen Schlafsaal gehen, den ich mir mit einem anderen, alten und laut der Hostelaufseherin sehr (zu) gesprächigen Mann teile. Sie hat mir empfohlen das Bett in der Ecke zu nehmen, soweit weg von ihm wie möglich. Ich bin gespannt. Nett sah er aber aus. Und auf mein 'hello' hat er nur dasselbe geantwortet.

In freudiger Erwartung auf die Ungewissheit von Morgen:
Gute Nacht!

Euer Tom



2 Kommentare:

  1. Ich halte es nicht aus, dass es hier noch keine Glückwunsch und Ich-klopf-dir-auf-die-Schulter-Kommentare regnet. Ich hab es dir schon per SMS, per Mail und am Telefon gesagt. Da kommt es auf diese 4. Weise kaum noch an. Oder kommt es gerade an...:
    Tom! Toll! So viele Kilometer. Der ganze Weg vom Anfang bis zum Ende. Krankheit und Regen und Durst und wilde Tiere. Ich bin schrecklich stolz auf dich.
    (Und jetzt such ich mir noch eine hellblaue Brieftaube.)

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  2. Ich schick dir eine gelbe Brieftaube gleich hinterher! Oder vielleicht Hedwig! ;)
    Ich freu mich so für dich, dass du das alles gemacht hast! Dass du so weit gelaufen bist, dass du vor Entscheidungen und Probleme gestellt wurdest und für dich zufriedenstellende Entscheidungen und Problemlösungen gefunden hast.
    Dass du wilde Kühe getroffen hast und andere Wanderer und tolle Pubs (den höchsten Pub Englands, hui!) und interessante Hostels.

    Ich freue mich auf ein Wiedersehen, auf Bilder und Erzählungen!
    Hab noch ein gutes Wandern!
    Anna. :)

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